Im Jahr 1911 erreichte die Kleistverehrung um die Jahrhundertwende anlasslich der einhundertsten Wiederkehr seines Todestags ihren Hohepunkt. Der massenhaft entfachte Kleist-Kult reichte von der deutschnationalen, burgerlichen Kleistdeutung, die seit 1870 an Boden gewann, uber Kreise etablierter Literaten bis zur Avantgarde. In der vorliegenden Arbeit wird anhand der expressionistischen Gedichte uber Kleist versucht, die Kleistrezeption der sich um 1910 formierenden expressionistischen Avantgarde vor der Folie dieses zeitgenossischen Kleist-Kults zu untersuchen und zugleich deren Abgrenzungsversuch gegen das konservative Lager des Burgertums sowie gegen das herrschende Dichtungsverstandnis des Asthetizismus um die Jahrhundertwende zu erklaren.
In den expressionistischen Dichter-Hommagen an Kleist wird dieser mehr als eine großartige menschliche Gestalt bedichtet denn als ein Dichter, der eine hervorragende asthetische Errungenschaft erbracht hat. Mit der Forderung nach dem “wunderwarme[n] Herzblut”, das Kleist im Gedicht von Paul Zech attestiert wird, stellen die Expressionisten die sozial-ethische Qualitat als die Bedingung des Dichtertums dar und schreiben ihr die entscheidende Bedeutung fur das dichterische Selbstverstandnis zu. Dadurch wird der Dichter Kleist bewusst aus allen Zusammenhangen des traditionellen Dichterkanons herausgenommen und burgt zugleich fur ein neues Dichterbild, welches von Dichtern fordert, dass Kunst ausschließlich als Ausdruck der Personlichkeit ihres Schopfers gesehen werden soll und der wahre Dichter erst aus intensiver Zuwendung zum Leben entstehen kann. Mit außerordentlicher Sensibilitat und vertrauensvoller Zuwendung zur Welt und zu den Mitmenschen ware Kleist dann eine Gegenfigur zum kalten, burgerlichen Asthetizismus. Mit der Orientierung an Personlichkeit und Lebensschicksal, die somit einen der wesentlichen Zuge in der expressionistischen Vorbildrezeption darstellt, versuchen die jungen Dichter des Expressionismus, sich von der herrschenden dichterischen Tradition abzusetzen.