Der vorliegenden Arbeit geht ein früherer Aufsatz voraus, in dem versucht wurde, über Zeitlichkeit und Räumlichkeit bei Kafka zu reflektieren, und zwar im Blick auf die mediale Revolution von heute. Dabei hat Kafkas bekannteste und viele immer wieder zu neuer Interpretation herausfordernde Erzählung 『Die Verwandlung』 als Analysevorlage gedient. Die Untersuchung zeigt, dass der Mensch-Tier Mischzustand Georg Samsas, der Hauptfigur der 『Verwandlung』, doch als Sinnbild für die andere Seinsweise, d.h. für einen anderen Maßstab für Zeit und Raum, zu fassen sei. David Harvey hat in seinem 『The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change』hervorgehoben, wie die Wirklichkeitserfahrung der modernen Welt sowie das reale soziale Machtverhältnis von der rapiden Veränderung in Bezug auf das Verfügen der Medien über Raum, Zeit und Geld geprägt waren, was man als Kompression von Zeit und Raum umschreiben kann. Die Kultur des Modernismus ist so gesehen die Reaktion auf diese Kompression von Zeit und Raum, und deren Überwindungsversuch gerade durch neue alternative Form des Zeit- und Raumbewußtseins. Samsas Verwandlung widerläuft nicht allein dem Wahrscheinlichkeitssinn, sie lehnt vielmehr auch das allgemein moderne Phänomen der Verzeitlichung des Raums, die Kompression von Zeit und Raum, ab. Demzufolge kann man sagen, dass Kafka eine literarische Zeit-Raum Diagnose gegenüber der modernen Welt liefert. was ihn mit wichtigen visuellen Künstlern des Modernismus zu Recht vergleichen läßt.
Diese Kafka-Raum(und Zeit)-Lektüre zu erweitern und sie gleichwohl möglichst um neue Beobachtungen zu ergänzen ist die Aufgabe, die sich die vorliegende Arbeit stellt. Sie nimmt in diesem Sinne das kurze Prosawerk des frühen Kafkas 『Kinder auf der Landstraße』(1903) unter die Lupe. Diesmal wird ein Begriff herangezogen, um die Bedeutung und Eigenschaft der Raum-Diagnose Kafkas festzulegen: Heterotopia. Seitdem Foucault Heterotopia dem Raum, bzw. der (Raum)Ordnung der modernen Welt entgegengestellt hat, mit dem Ziel, die Geschlossenheit und den Dualismus der Moderne zu überwinden, steht es oft im Horizont der postmodernen Ordnung. Schon bei Foucault wird Heterotopia in einem engen widersprüchlichen spiegelhaften Verhältnis mit Distopia sowie zu Utopia verstanden. Oder Heterotopia geht Utopia und Distopia gerade als Vorbedingung voraus. Heteropia stellt Orte und Räume dar, die am Rande der modernen Ordnung das Nebeneinander des Verschiedenen, die Uneinheitlichkeit des Seins, somit die Übergänge und das Krisenhaft der Ordnung bezeichnen. Ja, es signalisiert gerade die Unmöglichkeit der (modernen) Ordnung. Heteropia ist die Verräumlichung des eigentlich Chaotischen, der Unordnung des Präsens, unseres Seins. Wie wohl bekannt, Kafka hat in verschiedenerweise diese Unordnung verräumlicht dargestellt. Es kann ein Raum sein, der eigentlich nur für ‘mich’ bestimmt, aber ‘mir’ wird der Eintritt rigros abgelehnt(「Vor dem Gesetz」). Es kann aber auch ein Raum sein, der unendlich dehnbar, manchmal gar unermessbar(「Das nächste Dorf」), und gar auf einmal überlappbar(「Ein Landarzt」) usw. ist.
Etwas anders verhält es sich in 『Kinder auf der Landstraße』, da hier der Raum ‘realistisch’ beschaffen ist. Die Analyse zeigt jedoch, wie und dass es auch hier wesentlich um die zunehmende Homotophisierung des Raums in der modernen Alltagswelt geht. ‘Die Stadt im Süden’, wonach die Hauptfigur ‘Ich’ hinstrebt, assoziert zwar gewiß Utopisches im alten Sinne, jedoch signalisiert sie eine andere Möglichkeit der Welt, eben die Möglichkeit der (Un)Ordnung: Denn in der leben schlafenlose Narren, schlafenlos, weil sie nie müde werden. Es liegt die Frage nahe, ob Kafkt mit dieser schlafenlosen ‘Stadt im Süden’ sein Schreiben selbst verräumlicht verstehen wollte. Sie läßt sich wohl doch im Sinne von ‘Heterotophia der Fiktion Kafkas’ verstehen.