Der vorliegenden Arbeit liegt ein wohl umfassendes, kulturgeschliches und kulturvergleichendes Forschungsinteresse zugrunde, das auf den langwierigen und allmählichen Wandel des menschlichen Verhältnisses zum Meer gerichtet ist. Ob und warum etwa bei dem Verstehen einer Kultur wohl dem Meer, genauer gesagt der Meer-Vorstellung(bzw. Wahrnehmung) vieles beigemessen werden soll und kann - auf diese Frage kann man mit dem Verweis auf Namen wie Carl Schmitt und Elias Canetti einigermaßen gut antworten. Dabei hängt es nicht wenig mit der Bedeutung und Rolle zusammen, die das Meer für die Geschichte der Moderne seit jeher gespielt hat.
Unter diesen Fragestellungen setzt sich die vorliegende Arbeit mit dem Thema auseinander: Wie hat man im Deutschland des 19. Jahrhunderts über das Meer gedacht, was hat sich an diesem Bild im Laufe der Zeit verändert? Was ist gleich geblieben und was ist neu dazu gekommen?
Als konkreten Analysegenstand dazu ist der ‘Nordsee-Mythos’ geeignet. In Deutschland, oben am Meer, besonders an der Nordsee erfordert es besondere Anstrengungen um einigermaßen sicher zu leben. Häufige und übermächtige Sturmfluten an der Nordsee führten nämlich seit jeher dazu, dass sich mit der Zeit sich ein Narrativ-Komplex aus Erlebnissen, kollektivem Gedächtnis und Furcht vor Mord und Totschlag herausbildete. So seien einige Beispiele von solchem ‘Nordsee-Mythos’ geführt, von der Entstehungsgeschichte der Süd-Ost Küste der Nordsee bis zur Rungholtlegende.
Besondere Aufmerksamkeit sei der literarischen Gestaltung der Rungholtlegende von Detlev von Lilencron geschenkt. Liliencrons berühmte Ballade Trutz, Blanke Hans(1882) entflammte bei der Masse Enthusiasmus für die Rungholtlegende und die Nordsee-Romantik. Die Analyse zeigt wohl auf, dass der Dichter die religiöse narrative Tradition des Stoffes um seine eigene zivilisations-, technikkritische Darstellung bereichert.
Die Rungholtlegende ist seit den 1920er Jahren keine Legende mehr. Rungholt erweist sich als historisches Faktum, aber je mehr die historische Wahrheit geklärt wird, desto weiter gehen das Rungholt-Narrative und der historisch wahre Rungholt auseinander. Denn, anders als die narrative Rungholt, deren Gold mit der Zeit immer größer, immer schwerer und immer goldiger worden ist, war die historische Rungholt eine zwar relativ dicht bewohnte, aber auf Landwirtschaft basierte Ortschaft mit Handelshafen.
Diese Diversität betont den Mythos-Charakter der Rungholtlegende nochmals. Denn, was ist der Sinn und die Funktion des Nordsee-Mythos, das vor allem ein Narrativ vor dem Hintergrund der Sturmflut-Katastrophen ist, wenn nicht Warnung vor der Gefahr und Erinnerung an Erlebnisse von Not? Um als solches Narrativ am Leben zu bleiben, und um möglichst lang, möglichst weit verbreitet, möglichst viele Ohren zu erreichen, hat die Legende eine Art von Strategie nötig. Diese scheint das Gold zu sein. Und so steht die Rungholt, im Augenblick des Versinkens, im kollektiven Gedächtnis als Mythos neu auf.