Hofmannsthals fiktiver Brief, der unter dem Namen des fiktiven Briefschreibers meist als Chandos-Brief gefuhrt wird, zahlt zu den wichtigsten Texten der klassischen Moderne und der deutschen Literatur uberhaupt. Der Chandos-Brief markiert einen Einschnitt in Leben und Werk Hofmannsthals. Er markiert das Ende der lyrischen Periode und den Beginn der dramatischen Periode. Uber Person und Werk Hofmannsthals hinausgehend hat die Literaturgeschichte den Text unter dem Schlagwort ‘Sprachkrise’ zum Paradigma und Beginn der Moderne erhoben. Solche allgemeinen Periodisierungskonzepte konnten den Chandos-Brief konzeptuell zu vereinfachen und unangemessen zu vereinseitigen, wenn man ihn nur im Hinblick auf seine zukunftsweisenden Aspekte wie Sprach- und Wahrnehmungskrise betrachten wurde. Ebenso bedeutend scheint die retrospektive Asthetizismus-Kritik zu sein. Der Text bietet noch einmal alle Register des Asthetizismus auf, um ihn als uberlebtes asthetisches Modell zu erweisen. Im Brief, der ganz nach den Erfordernissen einer Pathogenese aufgebaut ist, wird die Leidensgeschichte eines Astheten erzahlt. Chandos kleidet seinen “anderen Zustand”, namlich die Schaffenskrise, in Krankheitsmetaphern und trachtet mit korperlichen Symptomen wiederzugeben. Im Ruckblick sieht Chandos seine fruhere Existenz als ein kunstvermitteltes Leben und findet das Ungenugen an dieser kunstvermittelten Existenz. Er beschreibt jedoch die belebenden Augenblicke in seiner Aphasie, und zwar anhand einiger Beispiele aus seinem Alltagsleben: der Todeskampf vergifteter Ratten oder ein Schwimmkafer in der Gießkanne. In diesen mystischen Augenblicken setzt die sinnliche Erfahrung die sprachliche Ordnung der Dinge außer Kraft. Hier zeigt sich eine Asthetik der Epiphanie, des gottlichen Moments einer kreaturlichen Einsfuhlung im Willen zum Leben. In diesem Sinne fuhrt der Chandos-Brief den Wechsel von der begrenzten Wortwelt des Asthetizismus in die grenzenlose Wirklichkeit geradezu programmatisch vor. Er inauguriert eine neue Asthetik, die Subjektivitat und Soziales zu vermitteln sucht. In diesem Vermogen, sich selbst in seinen impressionistischen Anfangen historisch zu sehen und diese Anfange aber zu einer asthetischen Neuorientierung zu nutzen, darin ist die werkgeschichtliche Bedeutung des Chandos-Briefes zu sehen. Der sozialen Aufgabe der Kunst suchte Hofmannsthal danach durch entschiedene Hinwenung zum Drama gerecht zu werden.