Rafik Schami ist lange als ,Marchenerzahler aus dem Orient‘, oder als Bestsellerautor bekannt gewesen und von der ernsten Literaturwissenschaft nicht beachtet worden. Seit letzter Zeit wird er jedoch in neuem Licht als reprasentativer Migrationsautor hoch geschatzt und geht in die deutsche Literaturgeschichte ein. Aber man muss neue Kriterien und eine Kritiksprache entwickeln, um ihn nicht nur als ,fremden' Autor, sondern seiner Literatur wurdig zu beurteilen.
In der vorliegenden Arbeit wird versucht, anhand der Begriffe des Erzahlens und Erzahlers seine Schreibweise zu charakterisieren. Zuerst wird Schamis ‘Erzahlen’ im gattungsbezogenen Kontrast zum Roman, der ein einsames Individuum voraussetzt, mit Benjamins Erzahlerkonzept verglichen und in zeitlich paradigmatischen Verhaltnissen erortert. Dabei wird die Moglichkeit des alten Erzahlers, die Lebenserfahrung von Generation zu Generation zu vermitteln, hervorgehoben. Zweitens wird die orientalische Tradition von Tausendundeiner Nacht herangezogen. Schami schatzt besonders den Mut von Scheherazade als Erzahlerin hoch, mit dem sie angesichts des Todes die spannenden Geschichten fortlaufend erzahlen kann. Schamis Texte sind ebenfalls in den harten Lebensverhaltnissen, wie der politischen Diktatur in Syrien oder der harschen Realitat eines Migranten in Deutschland, die den Erzahler betroffen haben, verwurzelt und konstruieren durch das Erzahlen eine alternative Wirklichkeit, die diese Problematik reflektiert und in indirekter Weise kritisiert.
In diesem Kontext ist sein Begriff des ‘Lugens’ von Relevanz, was seinen Wahrheitsbegriff von dem Europas differenziert. Lugen als ‘Fabulieren’ und Lugner als Erzahler haben ihre Wahrheitswerte in der Kraft der Sprache, die die Geschichte auf spannende Weise mit dem Leben der Nachbarn und des Publikums verbindet und zugleich daruber hinausgehend den sentenziosen Sinn vermittelt. Diese Erkenntnis wird anhand einiger seiner Texte Eine Hand voll Sterne, Der Erzahler der Nacht und Der ehrliche Lugner konkret nachgewiesen.
Man kann feststellen, wie der Autor im Laufe der Zeit die Distanz gewinnt, die fur seinen humoristischen und satirischen Schreibstil notwendig ist. Am Ende hat man erklart, dass diese Art von Erzahlen seine Situation als Migrant reflektiert. Dabei spielen nicht nur seine Motivation, seine andere Identitat aus der Perspektive des Einheimischen auszudrucken und dem deutschen Publikum seine Tradition und Kultur naher zu bringen, sondern auch seine Intention, deutschem Publikum deutsche Wirklichkeit durch den fremden Blick und auf dem typischen Umweg des ‘Erzahlens’ zu vermitteln. Es handelt sich beim Erzahlen von Rafik Schami darum, nicht das Marchen sondern das Leben furs Leben zu erzahlen.