Ein das moderne Deutsrhland prägendes Bild kann man mit dem Schlüsselwort der multikulturellen Gesellschaft beschreiben. Die deutsche Gesellschaft und deutsche Literatur(wissenschaft) reagieren jedoch auf die neue Realität mit Verzögerung und Vorbehalt. Dieses Phänomen wird zuerst durch die Betrachtung der modernen deutschen Literaturgeschichte beschrieben. In dieser Situation erweist sich der Roman Selam oder die Gabe der Rede von Sten Nadolny (1990) als hoch interessant, nicht nur wegen seiner charakteristischen Romanstruktur oder seines engen Bezugs zur modernen deutschen Geschichte, sondern auch wegen seiner interkulturellen Schreibweise. Dies lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen. Erstens bezieht der Schriftsteller deutsche moderne Gesrhichte eng in das Erzählen mit ein: Nicht nur die Geschirhte des dritten Reichs, der deutschen Teilung, der 68er Bewegung, des Terrorismus odor der konservativen Politik der Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren, sondern such die Geschichte der Gastarbeiter und Migranten in Deutschland sind dabei als deutsche Gesrhirhte betrachtet und in einer engen Verbindung mit den Srhicksalen der einzelnen Figuren dargestellt. Die Romanstruktur zeigt ebenfalls parallele Entwicklungen, die sich im Laufe der Handlung einem Fluchtpunkt nähern, indem sie aus den Perspektiven beider Hauptfiguren, des turkischen Gastarbeiter Selim und des Deutschen Alexander abwechselnd beschrieben werden. Im ersten und zweiten Teil lernen hauptsächlich die türkischen Gastarbeiter die fremde deutsche Gesellschaft kennen, während im dritten Teil zuerst von den harten Bemühungen einer Türkin um den Dialog zwischen der deutschen und türkischen Gesellsrhaften die Rede ist und später das Kennenlernen der türkischen Gesellsrhaft und Kultur von Seiten Alexanders thematisiert wird. Nicht zuletzt kann man den Höhepunkt der interkulturellen Schreibweise in der Beschreibung von Freundschaft zwischen Selim und Alexander erfahren. Sie kann man mit der Freundschaft zwisrhen Lessing und Mendelssohn vergleichen. Die besondere Errungenschaft von Sten Nadolny liegt vol allem darin, dass or die vielseitigen ploblematischen Aspekte auf die Rede konzentriert und eine einmalige Rednerfigur geschaffen hat. Die Problematik der Rede und des Redners wird nicht nor im Sprechen, Schreiben oder in der Rhetorik sondern auch im neuen Verhältnis des Redners zu Glaubwürdigkeit, dem Publikum und der Lebensfrage reflektiert. Wenn aurh der Schriftsteller immer noch die Figuren teilweise in der typischen kulturellen Dichotomie, wie der zwischen deutscher Innerlichkeit und türkischer Äußerlichkeit verbleiben lässt, ist die Gestalt von Selim dem Redner als Nachfolger von Nathan dem Weisen, als Korrektiv gegenüber der deutschen Gesellschaft zu interpretieren.