In dem vorligenden Aufsatz wird anhand des Romans Austerlitz von W.
G. Sebald (2001) die Rettung des Individuums thematisiert, die auf den vom
Medium ausgelosten, spezifischen Erinnerungs- und Erkenntnisarten basiert.
Ausgehend von der Analyse der Punctumausfuhrung in der Helle[n] Kammer
(1980) von Roland Barthes, ein ontologisch und phanomenologisch orientierter
Photographiediskurs, wird in Sebalds Roman die Suche der Hauptfigur
nach der verlorenen Zeit der Kindheit konkret interpretiert und charakterisiert.
Der Roman gewinnt nicht nur dadurch an Bedeutung, dass er den Kindertransport
der Juden im dritten Reich behandelt und ein zwar neuartiges,
jedoch anhaltendes Interesse an der Vergangenheitsbewaltigung aufzeigt,
sondern auch in formaler Hinsicht durch Einsatz vieler visueller Medien wie
Photograhien, Entwurfen oder Dokumenten etc., die verschiedenartig die
Wahrnehmungen der Leser anregen. Relevanter ist, dass der Autor zu zeigen
versucht, wie die Hauptfigur durch punctumartige Erinnerungen auf die Suche
nach der eignen vergessenen und verdrangten Vergangenheit geht. Erinnert
werden wie bei Barthes sowohl der schmerzvolle Untergang einer Person, der
Mutter, als auch die Katastrophe der Geschichte, der Kultur und der
Zivilisation. Anders als bei Barthes entsteht die punctumartige Wirkung nicht
durch das Medium der Photographie, sondern durch eine raumzeitlich motivierte
korperliche (Wieder)wahrnehmung. Dies geschieht etwa, als Austerlitz
wieder den Wartesaal des Liverpooler Bahnhofes betritt und sich selbst in
Form eines Phantombildes, als ein kleines Kind, das angstlich auf die
Abholung durch die Pflegeeltern wartet, sieht. Ebenso wie Bartes an einem
Photo seiner verstorbenen Mutter im Wintergarten das Wesen der Mutter
wiedererkennt und ihr Einst-da-Gewesen und Nicht-mehr-da-sein gleichzeitig
feststellt, ruft die Suche nach der eigenen Identitat im vorliegenden Text
immer den Tod von geliebten Personen und letzten Endes den des eigenen
Ichs zuruck. Punctumartige Erkenntnis und mediale Reflexion fuhren das
Individuum im zeitlichen Stillstand aus dem modernen homogenisierten Zeitund
Alltagsdruck heraus und geben ihm verdrangte, schmerzvolle Nahe und
vergessenen Ursprung wieder. ?Das punctum durchbricht (oder skandiert) das
studium.“ Der zuruckgebende Blick der auratischen Kunst im Benjaminschen
Sinne wird durch das punctum wieder realisiert und die Identitat des Individuums
medial bedingt muhsam wieder rekonstruiert.punctum, Erinnerung, individuelle Vergangenheit,
Kindertransport, Austerlitz