In der repräsentativen Demokratie ist der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes und er übt ein ungebundenes, freies Mandat aus. Als Schlüsselbegriff der repräsentativen Demokratie legt Art.46 Abs.2 KV das freie Mandat fest. Das freie Mandat gestattet dem Abgeordneten, überhaupt erst als Repräsentant zu wirken. Damit wird er in die Lage versetzt, an dem parlamentarischen Entscheidungsvorgang, der notwendig auf Interessenausgleich und Kompromiß beruhen muß, frei und eigenständig mitzuwirken. Das freie Mandat ermöglicht den Abgeordneten, alles aufzunehmen, was an ihm herangetragen wird, und gewährleistet damit einen offenen politischen Prozeß.
Das Bild vom völlig unabhängigen Abgeordneten entspricht der heutigen politischen Wirklichkeit nicht mehr. Im Parteienstaat sind die Abgeordneten parteimäßig gebunden. Sie sind zugleich Exponenten ihrer Partei. Diese politische Wirklichkeit wird auch durch Art.8 KV anerkannt. Die Einbindung in Partei und Fraktion ist regelmäßig nützlich und unverzichtbar. Das freie Mandat hat keinen antiparteienaffekt, gibt den Abgeordneten aber die rechtliche Möglichkeit eigenständigen Urteils und Handelns. Zwar schließt es eine Bindung der Abgeordneten an ihre Parteien nicht aus, aber es begrenzt diese Bindung. Zwischen Art.46 Abs.2 KV und Art.8 KV besteht sonach ein Spannungsverhältnis. Jedoch zwischen den beiden Verfassungsbestimmungen gibt es ‘auf der normativen Ebene’ keine grundsätzliche Spannung. Art.46 Abs.2 KV stellt klar, daß das freie Mandat auch im Parteienstaat der Gegenwart gilt. Hier geht es vielmehr um einen Schulfall der Unvereinbarkeit von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit.
In diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Zulässigkeit von Fraktionszwang bzw. Franktionsdisziplin gestellt. Aus dem Gebot des freien Mandats sind folgende rechtliche Folgerungen abzuleiten. Das freie Mandat verbietet jeden Fraktionszwang, d. h. rechtliche Regelungen oder vertragliche Vereinbarungen, die den Abgeordneten zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten zwingen sollen. Sie sind von vornherein nichtig und daher bedeutungslos. Kein Abgeordneter kann rechtlich zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden. Demgegenüber mit dem freien Mandat vereinbar sind mittelbare Druckmittel, etwa der nachdrückliche Appel an die parteilpolitische Solidarität. Das freie Mandat schließt faktischen Druck nicht aus, der den Parteien in ihrer Befugnis zur Kandidatenaufstellung zu Gebote steht. Zulässig ist auch die Abberufung eines Abgeordneten aus seinem Ausschuß durch die Fraktion und die Zuweisung an einen anderen Ausschuß, wenn der Abgeordnete grundsätzlich und permenent von der Linie seiner Partei abweicht und damit seine Fraktion dort nicht mehr repräsentiert. Für eine funktionsgerechte parlamentarische Arbeit in einer parteienstaatlichen Demokratie ist die Fraktionsdisziplin ebenso unentbehrlich wie das freie Mandat.